Prolog - Langversion

Zürich, im November 1253

Eine junge Frau läuft durch die dunklen Gassen. Ihre hölzernen Trippen klappern auf dem gefrorenen Boden. Unter dem weiten Mantel trägt sie ein dickes Paket, das sie beim Laufen sorgsam an sich presst. Ab und zu bleibt sie stehen, um zu verschnaufen und die Last in ihren Armen zu verlagern. Endlich tauchen die trutzigen Türme des Grossmünsterstifts vor ihr auf. Sie ist am Ziel. Sie zögert ein paar Minuten vor der Klosterpforte und wartet, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt. Das Bündel in ihrem Arm beginnt sich zu bewegen. Zögernd läuft die Frau vor dem Tor auf und ab. Dann fasst sie sich ein Herz und betätigt den hölzernen Türklopfer. Dumpf hallen die Schläge durch die Nacht. Es dauert ein paar Minuten, dann öffnet sich ein Fensterladen im Tor. Der Pförtner schaut hinaus. Überrascht betrachtet er die junge Frau.

„Was wollt Ihr hier zu nachtschlafender Zeit?“

„Bitte, lasst mich ein. Ich habe etwas für Propst Werner abzugeben.“

„Um diese Zeit?“ Der Pförtner bleibt misstrauisch. „Woher kommt Ihr? Wer schickt Euch?“

„Das darf ich nur dem Propst selbst sagen.“ Die junge Frau hat Mühe, das immer stärker zappelnde Bündel festzuhalten. „Bitte, es ist eiskalt hier draußen, lasst mich ein!“

Bevor der Pförtner antworten kann, dringt wütendes Kindergeschrei an sein Ohr. Erschrocken zieht er den Kopf zurück.

Die junge Frau fasst einen Entschluss. Behutsam legt sie das brüllende Bündel auf der Schwelle ab. „Verzeih mir, mein kleiner Bertram. Hier wirst du es gut haben.“ Eine Träne fällt auf das Gesicht des Kindes, dann ist die Frau verschwunden. Der Pförtner hört das sich entfernende Klappern ihrer Trippen, aber das Geschrei will nicht verstummen. „Beim Allmächtigen, sie wird doch nicht …“, denkt er bei sich und entriegelt vorsichtig die Pforte. Entgeistert starrt er auf den eingewickelten Säugling zu seinen Füßen, der lautstark kundtut, dass ihm die augenblickliche Situation so gar nicht zusagt. Seufzend hebt der Bruder das Kind auf. Er sieht noch einmal nach allen Seiten. Von der Frau ist nichts mehr zu sehen oder zu hören, auch sonst scheint niemand auf der Straße zu sein. Kopfschüttelnd trägt er das Bündel hinein.

Das Kind hat aufgehört zu schreien und schnieft nur noch leise vor sich hin. Der Pförtner blickt ratlos in das tränenüberströmte Gesichtchen. „Ja, was mache ich jetzt mit dir? Um die Zeit kann ich doch den Propst nicht holen lassen?“ Als hätte es die Worte verstanden, verzieht das Kind den Mund und erneutes Gebrüll erfüllt das stille Gemäuer. 

Unbeholfen wiegt der Pförtner es hin und her, dann eilt er Richtung Küche. Die Köchin oder eine der Mägde würde wissen, wie man mit so einem Winzling umgeht.

Mit der Schulter stößt er die schwere Tür auf. Hier ist es nicht so kalt wie im übrigen Gebäude, ein Rest Glut glimmt in der offenen Herdstelle vor sich hin und schafft etwas Wärme. Auf einer einfachen Bettstatt an der Wand schlafen zwei Frauen und fahren empor, als der Mann mit dem brüllenden Kind eintritt.

„Bruder Johannes!“, ruft eine erschrocken, „ist etwas geschehen?“ 

Er streckt ihr den Säugling entgegen. „Entschuldige, Anna, weißt du, was dem Kleinen fehlen könnte? Es hört nicht auf zu schreien.“ 

Die Köchin wickelt das zappelnde Kind aus den Tüchern. Ein unverwechselbarer Gestank erfüllt den Raum. Bruder Johannes weicht angewidert zurück.

„Kein Wunder, das er so schreit.“ Anna nimmt einen hölzernen Waschzuber von der Wand und bedeutet ihrer Nachbarin, das Herdfeuer anzufachen und den Wasserkessel zu füllen.

„Er?“, fragt Bruder Johannes.

„Eindeutig.“ Die junge Magd grinst und nickt auffordernd zur geöffneten Windel. „Wollt Ihr Euch selbst überzeugen?“

Bruder Johannes winkt ab.

„Und das hier war mit in die Tücher gewickelt, das hat ihn wohl arg gedrückt.“ Sie reicht ihm einen kleinen Lederbeutel und ein mehrfach gefaltetes Pergamentstück mit einem Siegel daran.

Bruder Johannes wiegt den Beutel in der Hand – es klimpert verheißungsvoll. Dann wirft er einen Blick auf das Siegel und erbleicht. „Jetzt muss ich doch den Propst wecken“, murmelt er und eilt zur Tür. „Und ihr sorgt mir gut für das Kind!“, ruft er den Mägden zu, bevor er die Küche verlässt.

Doch die hören ihn schon nicht mehr. Mit zärtlich gurrenden Lauten umsorgen sie den kleinen Jungen, der endlich aufgehört hat zu brüllen und friedlich im warmen Badewasser planscht.

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© 2023 Erika Weigele. Alle Rechte vorbehalten. 

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