Kapitel 4 – der Schluss

Zürich, Niederdorf, Mitte Oktober 1273

Gedankenverloren setzte Bertram einen Fuß vor den anderen und nahm seine Umgebung erst wieder wahr, als Friedrich in heftig am Ärmel zupfte. Sie waren erneut bei der Niederen Brücke angelangt. „Was ist denn, Friedrich?“

„Die Brotlaube! Wir wollten doch zur Brotlaube!“

„Friedrich! Du hast doch die ganze Zeit gegessen!“

„Ja, aber das war doch nur ein bisschen Brot mit Mus ... und Ihr habt es versprochen!“

Bertram wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Eigentlich wollte er mit den Pergamentrollen so schnell wie möglich ins Skriptorium zurück, aber inzwischen war er selbst hungrig. Und Meister Konrad war sowieso nicht da. Ein kleiner Umweg konnte nicht schaden. Er nestelte die schmale Börse von seinem Gürtel und warf einen prüfenden Blick hinein. „Lass uns bei der Brotlaube vorbeigehen und zwei Hühner-Pasteten holen. Das sollte doch wohl bis zum Abend reichen!“

Der Junge nickte begeistert. Sie holten sich ihre Pasteten und verzehrten sie auf einer kleinen Mauer am Ufer der Limmat. Hinterher blieben sie noch eine Weile sitzen, sahen den Fährschiffen hinterher, die stromabwärts gen Basel fuhren und genossen die Sonnenstrahlen auf der Haut. Friedrich warf einen Blick zu den Pergamentrollen, die zwischen ihnen auf dem Mäuerchen lagen. „Die kannte sich aber wirklich gut aus mit dem Zeug, nicht wahr, Herr Bertram?“ 

Bertram musste lachen. „Nun ja, wenn ihr Vater eine Werkstatt hat, ist das doch nicht so verwunderlich, oder?“

„Ich mein ja nur. Und ganz schön neugierig war sie auch.“

Bertram sah ihn überrascht an. „Wie kommst du darauf?“

„Naja, in der Küche hat sie mich die ganze Zeit ausgefragt. Wie ich heiße und was ich studiere. Ob Ihr mein Lehrer seid. Und ob Ihr ein guter Lehrer seid.“

Bertram zog die Augenbrauen hoch. „So? Ich hoffe, du hast nichts Falsches gesagt.“

Friedrich kicherte. „Natürlich habe ich Euch in höchsten Tönen gelobt. Und dann wollte sie noch wissen, ob Ihr Familie habt.“ Er wurde plötzlich ernst und sah Bertram mit schräg geneigtem Kopf an. „Wozu wollte sie das wissen? Und was ist das überhaupt für eine Frage? Jeder hat doch Familie.“

„Wenn du wüsstest“, dachte Bertram bei sich. Laut sagte er: „Das fragt man halt so. Es hat keine Bedeutung. Und jetzt lass uns endlich gehen, wir haben schon genug Zeit vertrödelt.“ Er erhob sich und schüttelte die letzten Brotkrumen von seiner Cotte. Friedrich sprang ebenfalls von der Mauer. Er wollte nach den Pergamentrollen greifen, doch Bertram kam ihm zuvor. „Die nehme ich besser. Nach der Pastete sind deine Finger nicht nur klebrig, sondern auch noch fettig. Fett verdirbt das Pergament, dann haftet die Tinte nicht mehr.“ Vorsichtig hob er die Rollen hoch und klemmte sie sich unter den Arm. 

Sie machten sie sich auf den Rückweg zum Münster, wo sie sich trennten. Bertram brachte die Pergamentrollen ins Skriptorium. Dort saßen noch viele der Brüder über ihre Schreibpulte gebeugt. An den Stundengebeten am Nachmittag nahmen neben einigen ausgewählten Schülern nur die beiden Kanoniker teil, die Chordienst hatten. 

Bertram verstaute die Bögen in einer Holztruhe. Er lief zu einem Pult am Fenster und wandte sich wieder der Handschrift zu, an der er in letzter Zeit gearbeitet hatte. Es war eine Abschrift des Johannes-Kommentars von Augustinus, die der Predigerkonvent dem Grossmünsterstift ausgeliehen hatte, um eine Kopie für den Schulunterricht anzufertigen. Spätestens an Ostern wollten die Dominikaner ihre Handschrift zurückhaben, es blieb nicht mehr viel Zeit. Und je eher er fertig wurde, desto früher konnte er mit dem Roman beginnen. Bertram suchte die Stelle im Kommentar, an der er beim letzten Mal stehengeblieben war. Augustinus interpretiert die Worte Jesu über den rechten Glauben anlässlich des Laubhüttenfestes. „Ipsa est ergo fides quam de nobis exigit Deus ... Dies ist also der Glauben, der Gott von uns fordert.“ Nachdenklich betrachtete er die Zeilen. Ja, was ist nun der Glaube, den Gott von uns fordert? Liebe? Vertrauen? Ob ihm Augustinus dabei helfen konnte, seine Sorgen zu überwinden und darauf zu vertrauen, dass der Herr ihm schon rechtzeitig offenbaren würde, was er mit ihm vorhatte? Im Augenblick kam ihm sein ganzes Leben vor wie ein einziges Rätsel. Und wenn er an seine Zukunft dachte, wurde ihm angst und bange. Meister Konrad war nicht mehr der Jüngste, ob das Stift ihn wohl behalten würde, wenn sein Fürsprecher nicht mehr lebte, trotz seiner zweifelhaften Herkunft? Vermutlich hegte der Kantor ähnliche Bedenken und hatte ihm nur deshalb den Auftrag bei dem Ratsherrn verschafft. Während Bertram einen frischen Gänsefederkiel zurecht schnitzte, ließ er in Gedanken die vergangenen Stunden Revue passieren. Die kecke Handwerkerstochter schien solche Ängste nicht zu kennen, so selbstbewusst, wie sie ihm die Pergamente präsentiert hatte. Offensichtlich trug sie ihren Namen zu Recht. Bertram erinnerte sich an sein ungeschicktes Verhalten und ärgerte sich über sich selbst. Wenn ein einfaches Mädchen so viel Selbstvertrauen haben konnte, warum dann nicht er? Er studierte schließlich, er war fleißig, der Herr hatte ihn mit einem besonderen Talent gesegnet, er hatte Mentoren, die ihn schätzten, was macht es da, dass er noch immer nichts über seinen Vater wusste? Es gab sicher einen triftigen Grund, warum der Propst und Meister Konrad bisher geschwiegen hatten.

Doch dann schob sich wieder das Bild eines tropfenförmigen Leberflecks in seine Erinnerung und er war sich gar nicht mehr sicher, ob er diesen Grund wirklich erfahren wollte.

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